Das fehlende Glied

Die Sache war die: Einstein suchte zehn Jahre lang nach der richtigen Form seiner Formeln für die ART. Sie mussten „kovariant“ sein, also für jedes Koordinatensystem passen, und das war gar nicht so einfach. David Hilbert, von vielen als der größte Mathematiker des 20. Jahrhunderts bezeichnet (neben oder mit Kurt Gödel), fing die Arbeit an diesen Formeln aber erst im Sommer 1915 an, nach einem Besuch und Vortrag von Einstein. Bereits im November des gleichen Jahres hatte er sie. Einstein erfuhr davon und bat um eine Kopie des (noch nicht veröffentlichten) Manuskripts, die er von Hilbert auch sofort erhielt. Und dieses Manuskript war für Einstein ein einziges Ärgernis. Erst mal fing Hilbert seine Abhandlung so an:

Die tiefgreifenden Gedanken und originellen Begriffsbildungen …

Aha: Jetzt kommt „von Albert Einstein“. Mitnichten!

… von Gustav Mie …

Verdammt, wer ist denn das? Aber es kommt noch schlimmer: Das mathematische Glied, das Einstein so lange gesucht hatte, nämlich der Ausdruck „- ½gmnR“ (für Fachleute: die Spur des Ricci-Tensors), tauchte bei Hilbert auf, fehlte aber bei Einstein – und die Formeln stimmten, waren kovariant, beschrieben die Welt, und ihre Ableitung strotzte auch noch von mathematischer Eleganz.

Wie würden Sie reagieren, wenn Sie zehn Jahre vergeblich an einem Problem arbeiten und dann erkennen müssen, dass ein anderer die Sache in ein paar Monaten geschafft hat? Einstein reagierte auf seine übliche Art: Er übernahm sofort das fehlende Glied und beschuldigte Hilbert (nicht direkt, nur in einem Brief an einen Freund), von ihm, Einstein, abgeschrieben zu haben! Dass er das Glied übernommen hat, weiß man von seinem früher eingereichten Manuskript, wo es fehlt – in der endgültigen Version taucht es dann auf, nachdem Einstein Hilberts Abhandlung gelesen hatte. Und vor allem: Einstein fügte das Glied einfach ein, ohne Ableitung. Hilbert dagegen leitet die ganze Formel nach einem einheitlichen mathematischen Verfahren ab, nachvollziehbar, korrekt und elegant.

Anstatt nun Hilbert für dessen Freundlichkeit zu danken, wirft er ihm in einem Brief vor, nicht originell gewesen zu sein, denn diese Gedanken, die Hilbert da der Öffentlichkeit vorstellen wolle, hätte er, Einstein, schon vor drei Jahren gehabt, allerdings bedauerlicherweise nicht veröffentlicht.

Irgendwie haben sich die Herren dann doch geeinigt. Hilbert brauchte keinen Streit mit zweitrangigen Amatör-Mathematikern. Einstein konnte sich keinen öffentlichen Disput mit einem erstrangigen Mathematiker leisten. So schrieb Einstein an Hilbert einen Brief der Versöhnung:

Es gab gewisse Ressentiments zwischen uns, deren Ursachen ich nicht weiter analysieren möchte. Ich habe gegen das Gefühl der Bitterkeit angekämpft, welches damit verbunden war, und das mit vollem Erfolg. Jetzt denke ich wieder von Ihnen mit unverminderter Freundlichkeit und ich bitte Sie, das gleiche mit mir zu machen.

Es ist, objektiv gesehen, eine Schande, wenn zwei Männer, die sich ein wenig von dieser schäbigen Welt befreit haben, einander nicht Freude bereiten.

Hilbert bedankte sich für diese Freundlichkeit und bemerkte in seinem endgültigen Manuskript:

Die Differentialgleichungen, die sich ergeben (gemeint sind Hilberts Gleichungen) stimmen, wie mir scheint, mit denen der großartigen Theorie der Allgemeinen Relativität überein, die von Einstein in seinen späteren Publikationen begründet wurde.

Wer zwischen den Zeilen liest, erkennt viel Ironie und wenig Anerkennung. Immerhin, Einstein hatte gesiegt. Auch wenn ein so angesehener Physik-Historiker wie Jagdish Mehra am Ende seiner Untersuchung „Einstein, Hilbert, and the Theory of Gravitation“ zu dem Schluss kommt:

Einstein hat sich Hilberts Beitrag zu den Feldgleichungen der Gravitation ‚angeeignet‘, als einen Gang seiner eigenen Ideen.

Es hilft nichts: Die kovarianten Gravitationsgleichungen werden seit dem Jahr 1920 Einstein zugeschrieben, und dass er den entscheidenden Teil abgeschrieben hat, wird in keiner Einstein-Biografie erwähnt. Und dass Hilberts Brief verstümmelt wurde, um seine Priorität zu verschleiern, auch das interessiert heute niemand mehr.

Peter Ripota

Eine Antwort zu “Das fehlende Glied”

  1. michael hartung

    Kurze Bemerkung meinerseits.

    Es ist bekannt, daß D. Hilbert die Feldgleichungen der Gravitation als erster richtig abgeleitet und hingeschrieben hat und das A. Einstein sie schlicht weg von D. Hilbert kopiert hat.
    Ich glaube irgendwo gelesen zu haben, daß Hilbert über seine Ableitung der Gravitationsfeld-Gleichung einen kurzen Vortrag in Göttingen abgehalten hatte. Damit wäre doch auch die chronoligische Richtigkeit der Erstentdeckung durch D. Hilbert geklärt.

    Die erste Abhandlung über die ART (1912/13) machte A. Einstein übrigens nicht alleine, sondern mit M. Großmann zusammen, einem Studiumkollegen Einsteins aus der E.T.H. Zürich. M. Großmann übernahm in dieser Veröffentlichung den mathematischen Part, der für A. Einstein offensichtlich zu schwierig war. Einstein wußte auf keinen Fall das Wissen um die Riccitensoren oder um des Gauß-Riemannschen Raumes. All dies hatte ihm M. Großmann ausführlich erklärt. Man könnte damit sagen, daß A. Einstein die ART philosophisch erfaßt hat, aber nicht mathematisch! Auch das Werk der SRT kann nach meiner Meinung nicht auf A. Einstein allein zugeordnet werden. Mindestens folgende Wissenschaftler müßten gleichwertig genannt werden:

    H.A. Lorenz (Lorenztransformation, als auch die Abhängigkeit der Masse von der Geschwindigkeit – m=m(v), s. ein Bd. von Sommerfeld im Vor- od. Nachwort), Henrie Poincare (Definition der Gleichzeitigkeit – damals von ihm auch in einer Züricher Zeitung vor Einstein veröffentlicht, d.h. Einstein muß diesen Artikel zuvor gelesen haben, Einführung des vierdimensionalen Raumes, den später Minkowski übernimmt und seit dem seinen Namen trägt) und natürlich A. Einstein selbst für seine letztere Veröffentlichungen aus dem Jahre 1905.

    Wichtige Resultate weit vor 1905 sind.
    Michelson und Morley haben das Gesetz der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit vor 1905 experimentell belegt.
    J.C. Maxwell lieferte die ersten LT-invarinate Feldgleichungen. C.F. Gauß und B. Riemann lieferten vor und um 1858 den Wirkungsraum für die Relativitätstheorie und viel früher prägte kein geringerer als G.W. Leibnitz den richtigen philosophischen Ansatz, daß die Zeit im Raum nicht überall gleich ablaufen kann – im Gegensatz zur Meinung I. Newtons.

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