The nature of physical theory

von Percy Williams Bridgman

Das GOM-Projekt referiert stichwortartig in seiner Dokumentation drei Arbeiten vom Physik-Nobelpreisträger Percy Williams Bridgman:

1936 – The nature of physical theory
Princeton Univ.  1936 – philpaper

S. 72-92: Kap. 7: Relativity:
– Bridgman behandelt vor dem Hintergrund seiner Anerkennung für die Spezielle Relativitätstheorie  hier nur die Allgemeine Relativitätstheorie. Für die Beurteilung einer
mathematical theory“ ist die Analyse des Textes ebenso wesentlich wie die Analyse der Gleichungen; denn der Text enthält das Nichtanalysierbare (unanalyzable) der Theorie und damit ihre wesentlichen Beschränkungen (S. 72).

– Trifft auf der Grundlage des von ihm vertretenen „Operationalismus“ kritische Feststellungen zur physikalischen Konkretisierung und Realisierbarkeit der Theorieaussagen über Koordinaten (Zeit und Raum) und Ereignisse:

(1) Die physikalischen Eigenschaften der Koordinatensysteme, der starren Maßstäbe und Uhren werden nicht analysiert. Eine Uhr scheint nur ein Instrument zu sein, das so funktionieren soll, wie die Gleichungen es erfordern. Dies genau zu bestimmen, wäre Aufgabe des Textes, die nicht gelöst ist (S. 73). 

(2) Die Ankunft eines Lichtsignals, seine Identifizierung im Hinblick auf die Ankunft desselben Lichtsignals an verschiedenen Punkten sind nicht genau bestimmt (S. 73-74).

(3) Ereignisse werden an Schnittpunkten von Weltlinien lokalisiert: eine Weltlinie an sich hat aber keine physikalische Bedeutung (S. 75).

(4) Die Allgemeine Relativitätstheorie sieht es offensichtlich nicht als ihre Aufgabe an zu bestimmen, wieviele und welche Arten von Ereignissen erforderlich sind „to characterize a definite physical situation exhaustively. […] It has apparently renounced the ambition to be a complete theory“ (S. 75).

(5) Die physikalische Situation in einem Koordinatensystem kann durch Transformation der  Koordinaten in ein anderes Koordinatensystem nicht erkannt werden: „no physical conclusions whatever about the happening can be drawn merely by passing from the coordinates in one framework to those in another“ (S. 77).

(6) Wie erkennen verschiedene Beobachter die Identität (sameness) des von ihnen beobachteten Ereignisses? (S. 77-80).

–  Weitere Kritik betrifft den Begriff des Naturgesetzes, die Bedeutung von Kovarianz und Invarianz, den Zusammenhang zwischen Spezieller Relativitätstheorie und Allgemeiner Relativitätstheorie: „generally felt by physicists that the special theory of relativity is on an entirely different basis from the general theory“ (S. 84). Diskutiert ferner die Gültigkeitsbereiche von Spezieller Relativitätstheorie und Allgemeiner Relativitätstheorie und dieFrage der Vereinbarkeit von Spezieller Relativitätstheorie und Quantenmechanik.

– Ergebnis: „It seems to me that the arguments which have led up to the theory and the whole state of mind of most physicists with regard to it may some day become one of the puzzles of history“ (S. 92).  Besonders die Diagnose über das Verhältnis von Spezieller Relativitätstheorie zu Allgemeiner Relativitätstheorie widerspricht mit wünschenswerter Deutlichkeit der gegenteiligen Propaganda der meisten anderen Relativisten: hier sagt es ihnen einer der ihren! – Als Folge der völligen  Verschiedenheit kann Bridgman leicht die eine Theorie akzeptieren und die andere fundamental kritisieren.

– Das für die Zukunft erwartete „puzzle of history“ sehen 1936 andere Kritiker schon deutlich vor sich.

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1949 – Einstein’s theories and the operational point of view
In: Albert Einstein – philosopher-scientist. 1949, S. 333-354.

– In der Speziellen Relativitätstheorie hat Einstein den Grundsatz vertreten, ein Begriff existiere für den Physiker erst, wenn er in einem bestimmten Fall erfüllt ist. Damit hat Einstein bedeutende Erkenntnisse in Form der Speziellen Relativitätstheorie gewonnen (S. 335-337).

– In der Allgemeinen Relativitätstheorie hat Einstein diesen Grundsatz der empirischen Darstellbarkeit nicht mehr beachtet, hat stattdessen alle wichtigen Fragen der Empirie (Über welches konkrete Koordinatensystem sollen Daten erhoben werden? Wie können die Koordinaten festgestellt werden? Wie können Beobachter erkennen, daß sie dasselbe Ereignis beobachten?) vernachlässigt (S. 338-347).

– Die Definition der Uhr ist zirkelhaft: die Uhr ist ein Apparat, der so funktioniert, wie die Relativitätstheorie sagt, daß eine Uhr funktioniert (S. 338-339).

– Zusammenfassung der Kritik an Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie: „In his conviction of the possibility of getting away from any special co-ordinate system, in his conviction of the fruitfulness of so doing, and in his treatment of the event as something primitive and unanalyzed, he has carried into general relativity theory precisely that uncritical, pre-Einsteinian point of view which he has so convincingly shown us, in his special theory, conceals the possibility of disaster“ (S. 354).

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1952 – The nature of some of our physical concepts
[3 lectures, Univ. of London, April 1950]  New York: Philosophical Libr. 1952
Erstveröff. in: British journal for the philosophy of science. 1951, January; April; August.

Introd. (S. 5-6): In unseren physikalischen Vorstellungen (physical concepts) gibt es praktische Maßnahmen (operations), deren instrumentale und verbale Aspekte eingehend analysiert werden sollen: die verbalen Aspekte nennt Bridgman drastisch „paper and pencil components“: „There is a constant reaction, back and forth, between the instrumental and the verbal aspects of our operations“ (S. 5). Will die Grundgedanken des von ihm vertretenen Operationalismus darlegen, mit einem klaren Bekenntnis zur Empirie, in der Praxis und Reflexion vereint sind: „It is the practise that comes first – we find how to deal with a situation, and then reflection after the event puts the practise in a new light“ (S. 6).

– 1. Vortrag (S. 7-22): Definiert als „paper-and-pencil operations“ alle nicht-instrumentalen, geistigen Aktivitäten (mental operations): die verbalen Aussagen, die mathematischen Berechnungen(speziell des theoretischen Physikers), jede Verwendung von Symbolen (S. 8).

– Die „mental experiments“ sind stark idealisiert, „ignoring in many cases physical limitations which in principle would make the experiment impossible“ (S. 9).

– Die wichtigste „paper-and-pencil“-Aktivität ist die Mathematik; ihre Schärfe und Sicherheit kontrastieren zur Ungenauigkeit der instrumentellen Befunde, Meßergebnisse; sie setzt die Vorstellungen von eindeutiger Identität und Wiederholung voraus; erläutert die Probleme am einfachen Differentialquotienten des Fallgesetzes. Sieht im Übergang von den Meßdaten zur Gleichung einen „logical jump“ (S. 11-14).

– Der Feldbegriff als Ersatz für die Fernwirkung kann empirisch nicht gerechtfertigt werden: „There is no way by which the desired distinction between action at a distance and action by a field can be given instrumental significance“ (S. 16). Der Gegenstand und die Mittel seiner Beobachtung und Messung bilden eine Einheit: die Mittel der Beobachtung werden gern vergessen. Im Falle des „empty space“ führt dies zu immanenten Widersprüchen (S. 18: inner contradiction)  denn um die Leere des Raumes empirisch zu bestimmen, muß ein Nachweisinstrument verwendet werden – und der beobachtete Raum ist nicht mehr leer. Sieht hier eine Analogie zu Heisenbergs Unschärferelation (S. 18-19).

– Lichtausbreitung kann nur an der Quelle (Sender) und am Zielort (Empfänger) empirisch festgestellt werden; die Vorstellung, daß sich etwas bewegt (a thing travelling), ist nicht beweisbar, wie schon der leere Raum oder die Unterscheidung von Feld und Fernwirkung. Nur für die Korpuskulartheorie des Lichts wäre das „travelling thing“ anwendbar (S. 20-21). Diese instrumental nicht nachweisbaren Vorstellungen sind bloße Konventionen (S. 22).

– 2. Vortrag (S. 23-42): Behandelt die Thermodynamik, Energiebegriff, Einsteins Masse-Energie-Beziehung E=mc²: die Gleichung dürfte für Energie und Masse nur die Differenzwerte zwischen Anfangs- und Endzustand des Systems enthalten (S. 26).  Eingeladen zu den Vorträgen hatte H. Dingle. Das Bekenntnis „practise comes first“ läßt für die physikalische Mathematik (die sich selbst gern „mathematische Physik“ nennt) nichts Gutes erwarten.

– Wer sich nach der Lektüre von Bridgman an Minkowskis starke Behauptung von 1908 erinnert, seine vierdimensionale Raumzeit sei auf „experimentell-physikalischem Boden erwachsen, darin liegt ihre Stärke“, weiß nicht mehr, ob er lachen oder weinen soll – Kritiker werden wohl eher zum Lachen neigen.

 

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