Einstein und die Relativität in China

von Danian Hu

Die Forschungsgruppe G.O. Mueller referiert in der Ergänzung des Kapitels 4 ihrer Dokumentation zwei Arbeite von Danian Hu:

2004 – Organized criticism of Einstein and relativity in China, 1968-1976
In: Historical studies in the physical and biological sciences. Berkeley, Calif. 34. 2004, Nr. 2, S. 311-338.

(S. 312:) Albert Einstein wurde in China seit der Periode 1917-21 bekannt und galt lange als wissenschaftlicher Held. Nach 1949 geriet Einstein almählich in Mißkredit, und
in der Kulturevolution (1966-76) wurden seine Person und die Relativitätstheorie Ziele einer organisierten Kritik, die von zwei radikalen Parteipropagandisten betrieben wurde. Nennt als Kritikpunkte Subjektivismus, Sophismus und idealistischen Relativismus (S. 315). Erst 1969 unterstützte die Partei die radikale Kritik (S. 316). Zitat aus einer kritischen Veröffentlichung von 1969: „The major premise of Relativity was relativism in philosophy; the space-time theory in Relativity was bourgeois solipsism; and Relativity’s fundamental principle has never been confirmed by experiments“ (S.316).

1973/74 wurden 4 längere kritische Arbeiten veröffentlicht: „The space-time view„, „The view of motion„, „The view of matter„, „The world view„. „All four papers were published in academic journals, disguising their political motivation under academic garb“ (S. 324).

Die Kontroversen betrafen die Frage, ob die Theorien einen generellen Relativismus bedeuten, aber auch konkrete Probleme der Raum-Zeit und der Raumkrümmung. „The papers developed no consistent argument or logical structure, nor any scientific, historical, or even philosophical analysis“ (S. 324).

Zwei Artikel 1973 kritisierten auch die Urknall-Theorie, denen noch 30 weitere kritische Artikel folgten. Seit 1948 hatte die Sowjetunion die Kosmologie stark beeinflußt, in der Kulturrevolution wurde diese Kosmologie attackiert. Nach dem Ende der Kulturrevolution konnte der erste Band einer Einstein-Ausgabe erscheinen (S. 330). Zum Jubiläumsjahr 1979 war Einstein rehabilitiert. Der Autor hat keine chinesische kritische Veröffentlichung vor 1949 finden können. Die meiste Kritik in den 1950er Jahren wurde aus der Sowjetunion importiert (S. 334).

Als die Sowjetunion um 1960 ihren offiziellen Kurs änderte und die Relativitätstheorien akzeptierte, blieb China bei der Kritik.

Beschreibt die heutige Situation (S. 335, Fußnote 121): „Dozens of activists in China still work against Einstein’s theory of relativity. Although many of them work in universities or research institutes, the mainstream of the Chinese scientific life rejects them. They publish through vanity press and on the Internet. One can find these activistsand their works on
http://xdl2003.xiloo.com/2-3.htm
http://cn.geocities.com/tsaochang/
http://relativity.51.net/index02.html

 

_ Der Autor ist strikter Relativist und hält daher irgendeine legitime Kritik an den Relativitätstheorien für ausgeschlossen. Deshalb erfährt man durch ihn auch fast nichts über die Agumentationen der Kritiker. Immerhin teilt er Internetadressen der aktuellen Kritik mit. – Da die Chinesen aber nicht dümmer sind als andere Völker, wird es auch in China Kritiker der Theorie gegeben haben, die argumentierten und nicht nur Politmüll produzierten. – Die Arbeit von Hu ist ähnlich gelagert wie die von Delokarov, K. Ch. (Relativitätstheorie und Materialismus.1977) über die Kritik der Einsteinschen Theorien in der Sowjetunion vor 1960: er sollte beweisen, daß alle Theoriekritik nur politische Propaganda und dummes Zeug gewesen ist.

 

2005 – Einstein und die Relativität in China, 1917-1979
In: Albert Einstein – Ingenieur des Universums. Hrsg.: Jürgen Renn. Weinheim 2005, S. 444-447 [siehe hier].

Berichtet auch über die Perioden der Kritik und Ablehnung der Relativitätstheorien in China, die nach dieser Darstellung ausschließlich politisch-ideologisch motiviert und zunächst von sowjetischem Einfluß gesteuert waren und später ein Instrument im Machtkampf während der Kulturrevolution wurden.

S. 444: „Offenen Widerstand gegen die Relativitätstheorie gab es in China erst viel später, in den frühen 1950er-Jahren, obwohl man durchaus von den Anti-Relativitäts-Kundgebungen in Berlin 1920 und von den Widerständen in Japan gegen die Allgemeine Relativitätstheorie wußte. Der einzige relativitätskritische Essay, der damals in China veröffentlicht wurde, war die Übersetzung einer Arbeit des deutschen Philosophen Hans Driesch (1867-1941). Aber selbst der Übersetzer war mit Drieschs Kritik nicht einverstanden.“

S. 445-446: „Durch den kommunistischen Sieg 1949 und den Korea-Krieg (1950-1953) änderte sich die innen- und außenpolitische Lage Chinas vollständig. Mao Zedongs Politik der „Anlehnung an eine Seite (die Sowjetunion)“ entzog das Land zwar der von den Vereinigten Staaten angeführten Blockade, lieferte es dafür aber stalinistischem Einfluß aus. Insbesondere drang jetzt die in der Sowjetunion propagierte politische und philosophische Kritik an Einstein und der Relativitätstheorie auch nach China. Durch den sowjetischen Einfluß wurde das öffentliche Bild Einsteins in China angegriffen, und in der Folge entstand eine eigenständige chinesische Kritik, die sich auf den dialektischen Materialismus der marxistischen Philosophie stützte. Diese Kritik konzentrierte sich bis 1965 auf Einsteins philosophische Ansichten: oftmals wurde Einstein mit Verweis auf W. I. Lenin (1870-1924) als „herausragender Wissenschaftler aber schwacher Philosoph“ verspottet. […] Die chinesische Kritik an Einstein und der Relativitätstheorie in den 1950er- und den frühen 1960er-Jahren bereitete den Boden für die weitaus radikaleren Angriffe während der Zeit der Kulturrevolution (1966-1976), die China in einen beispiellosen Aufruhr stürzte; in dieser Zeit wurden nicht mehr nur Einsteins politische und philosophische Ideen angegeriffen, sondern auch seine wissenschaftlichen Theorien. […] Während der Kulturrevolution wurden Einstein und die Relativitätstheorie zu Hauptzielscheiben einer organisierten Kritik: sie begann 1968 in Peking und weitete sich aus in Shanghai in den 1970er-Jahren. Zu den Kritikern gehörten vor allem Wissenschafler, Ingenieure, Philosophen und Journalisten der jüngeren Generation; die Theorie beruhe auf unbegründeten Hypothesen, lauteten die Vorwürfe, sie vertrete bourgeoise Sichtweisen und einen reaktionären „idealistischen Relativismus“ und sie stelle insgesamt „eines der größten Hindernisse gegen den Fortschritt der Naturwissenschaften“ dar. Radikale Parteipropagandisten wie Chen Boda (1904-1989) und Yao Wenyuan (*1931) förderten die Kritik und spannten sie für ihre politischen Zwecke ein … […] Als die beiden radikalen Politiker im Jahre 1976 gestürzt wurden, verstummte die Kritik zwar weitgehend, hatte aber bis dahin enormen Schaden im chinesischen Wissenschafts- und Bildungssystem angerichtet. Zwischen 1974 und 1977 gab es eine „wissenschaftliche“ Debatte über Relativität in einer physikalischen Zeitschrift, die viele junge Physiker einbezog, und den tiefgreifenden Einfluß der orthodoxen marxistischen Ideologie auf die Wissenschaftler zeigte: selbst die Verteidiger der Relativitätstheorie schlossen sich damals den Kritikern an und griffen aus der Perspektive des Dialektischen Materialismus die Interpretationen Einsteins an.

 

 _ Billigt den Kritikern keine physikalischen Gründe für ihre Kritik zu: eine ziemlich unwahrscheinliche Einseitigkeit. Die Darstellung im Begleitband zur Einstein-Ausstellung des Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte im Jubeljahr 2005 in Berlin erlaubt natürlich auch keine Erwähnung einer normalen legitimen Kritik, sondern nur eine Parade der ideologischen und politischen Ungeheuer aus dem Gruselkabinett der Relativistik, wo die Kritiker der Relativitätstheorien grundsätzlich als Kumpane von Mörderbanden verleumdet werden. – Die Darstellung von Hu ist äußerst nützlich als Beleg für die Existenz einer Kritik in China, vergleichbar mit dem Buch von Delokarov, K. Ch.: Relativitätstheorie und Materialismus. 1977, der in seiner Darstellung der Kritik in der Sowjetunion ebenfalls den dortigen Kritikern jegliche physikalische Kritik abspricht. – Nicht uninteressant ist die Bemerkung über die „Widerstände in Japan gegen die Allgemeine Relativitätstheorie„. Es wäre zu prüfen, ob es auch eine ähnliche Darstellung für Japan gibt.

 

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Siehe auch in diesem Blog:

Li Zifeng – The essence of special relativity and its influence on science, philosophy and society

 

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