Immanuel Kant und seine Bedeutung für die Naturforschung der Gegenwart

von Johannes von Kries 

Immanuel Kant und seine Bedeutung
für die Naturforschung der Gegenwart
Johannes von Kries
 

Berlin: Springer 1924. 127 S. 

Die Forschungsgruppe G.O. Mueller referiert in der Ergänzung des Kapitels 4 ihrer Dokumentation diese Arbeit von Johannes von Kries:

 

Diskutiert die Bedeutung der Philosophie Kants für die Auffassung von Raum und Zeit und ihr Verhältnis zur „modernen Physik“ Albert Einsteins und seiner Anhänger (S. 25-72 und in den dazugehörigen Fußnoten Nr. 14-28 auf S. 117-122). 

Kommt den Auffassungen der Relativistik entgegen, indem er ihren Ansätzen zu einer anderen Konzeption von Raum und Zeit wiederholt die logische Möglichkeit zubilligt, erkennt jedoch den klaren Gegensatz dieser Konzeption zur Erkenntnis Kants, die man nicht aufgeben darf (S. 32:) „Trotzdem möchte ich nicht unterlassen, ohne Rückhalt auszusprechen, daß m. E. die naturwissenschaftliche Auffassung die eigenartige psychologische Natur der Raumvorstellung außer betracht läßt, und daß sie demgemäß Dinge verkennt und ablehnt, über deren Berechtigung und tiefe Bedeutung auch für mich kein Zweifel besteht. Unmöglich können wir die Raumvorstellung in eine Reihe einzelner Koinzidenz-oder Berührungsbeziehungen auflösen und durch diese ersetzen.“ 

Sieht die Darstellung der euklidischen Geometrie als überlegen an: es gibt kein überzeugendes Argument, die Eigenschaft einer Krümmung von den physikalischen Phänomen auf den Raum zu übertragen (S. 38): „Ebenso würden wir aus der Tatsache, daß ein Lichtstrahl, der sich ungehemmt weiter fortpflanzt, seinen Ausgangspunkt wieder erreicht, nicht schließen, daß der Raum begrenzt ist und daß die Gerade in sich zurückläuft, sondern, daß der Lichtstrahl nicht in gerader, sondern in gekrümmter Bahn läuft. Mit Recht kann man also betonen, daß Widersprüche gegen die geometrischen Axiome niemals in einer absolut zwingenden Weise dargetan werden können.“ Nichts kann uns veranlassen, die (S. 39) „zwingende Evidenz der Euklidischen Geometrie“ zu übersehen

Sieht ebenso evident die Zeitvorstellung (S. 40): „Gleich der des Raumes stellt auch sie [die Vorstellung der Zeit] einen Bewußtseinsinhalt dar, der mit seinen maßgebenden Eigenschaften – Zusammensetzung aus streng vergleichbaren Teilen, unbegrenzte Erstreckung nach der Seite der Vergangenheit wie der Zukunft usw. – fest und unveränderlich gegeben ist. In zwingender Evidenz steht diese Beschaffenheit fest; der Gedanke an eine andere, wie etwa eine Krümmung, ist ausgeschlossen.“ 

Besteht mit den „streng vergleichbaren Teilen“ als „fest und unveränderlich gegeben“ auf der Geltung des einen, universalen Einheitensystems für alle Messungen (womit, ohne daß sie ausdrücklich genannt werden, Kontraktion und Dilatation von Längen und Zeiten ohne Grundlage sind). 

Auch die Beurteilung der Minkowski-Welt verbindet unwesentliche Zugeständnisse (einfach, elegant) mit wesentlichen Einwänden (S. 48): „… daß in der Minkowskischen Darstellung ein T e i l unseres Wirklichkeitswissens in der einfachsten Form und mit einem Höchstmaß an Eleganz zur Darstellung kommt, daß sie aber immer nur eine bedingte Bedeutung besitzt, daß wir jedenfalls kein Recht haben, sie als die universale und allein zulässige Form alles Wirklichkeitsdenkens in Anspruch zu nehmen. Auch müssen wir uns namentlich vor der dem gewöhnlichen Realismus naheliegenden Täuschung hüten, mit ihr das wahre und eigentliche Wesen der uns umgebenden Welt erfaßt zu haben.“ 

Stellt auch immer seine Vorbehalte fest bezüglich der behaupteten physikalischen Sachverhalte, die er selbst nicht beurteilt (S. 57): „… und die Umwandlung des physikalischen Begriffskreises, die wir Minkowski und Einstein verdanken (immer natürlich die volle Bestätigung des dem Relativitätsprinzip zugrundeliegenden Tatsachenmaterials vorausgesetzt) …“ Beurteilt (S. 59) die verschiedenen neuen physikalischen Weltbilder zwar als logisch möglich, aber nicht als einzige Möglichkeit und nicht als zwingend erwiesen. Schon darin steckt im Jahr 1924 eine Kritik an dem offiziell verkündeten Jubel über die Theorie. 

Sieht als wesentliche Leistung Kants, die man nicht aufgeben darf, (S. 62) „die Lösung von der Illusion eines naiven Realismus, dem die Wahrnehmung zeitlicher und räumlicher Verhältnisse ohne weiteres als die Erfassung der außer uns gegebenen Wirklichkeit nach ihrem eigenen Wesen erscheint. All dies muß man im Auge behalten, um die Bedeutung der Kantschen Lehre zu würdigen.“ 

Treibt auf S. 64 seine Anerkennung und gleichzeitige Kritik des physikalischen Weltbildes in den größten Kontrast: einerseits „Genialität„, andererseits „Täuschung“ über die Natur der unmittelbaren Wahrnehmung. 

Konstatiert zwei Formen der Naturerkenntnis (S. 65), die „direkt sinnliche“ und die „intellektuelle„, deren Ergebnisse sich widersprechen können. Beantwortet die Frage des Themas (S. 71): die Mehrzahl der Physiker bestreitet Kants Erkenntnislehre als verkehrt oder lehnt sie als fremdartig ab. Damit entgeht ihnen Kants Erkenntnis (S. 72), „daß auch Zeit und Raum diesen subjektiv bestimmten und festgelegten Formen zuzurechnen sind.“ 

  

 _ Versäumt leider, die Überlegenheit der euklidischen Geometrie konkret dazutun an ihrer Begründung ohne metrische Annahmen, wohingegen alle nicht-euklidischen Geometrien zu ihrem Aufbau eine Metrik für ihr Krümmungsmaß erfordern, das eindeutig nur in euklidischer Geometrie gegeben werden ann, so daß die nicht-euklidischen Geometrien stets nur als Konstruktionen im Rahmen der übergeordneten euklidischen Geometrie gedacht werden können. 

– Bemerkenswert sind folgende Merkmale dieser Veröffentlichung: 

(1) Sie bestreitet die behaupteten Erkenntnisse der Physik über Zeit und Raum allein vom Boden der Erkenntnistheorie, so z. B. das Bestehen auf universal gültigen Maßeinheiten, ohne die eine Welterkenntnis unmöglich wäre. 

(2) Sie stellt auch 1924, als schon alles als bewiesen propagiert wird, die Behauptungen der Physiker noch unter den Vorbehalt der experimentellen Bestätigung.  

(3) Sie bemüht sich um größte Differenzierung der Standpunkte und Urteile, kommt damit der Relativistik durchaus entgegen, findet aber auch unüberbrückbare Widersprüche und unleugbare Fehler. 

(4) Sie stellt den scharfen Kontrast zwischen Kant und Relativistik heraus, womit sie sich in Widerspruch zu anderen Autoren stellt, die alles für vereinbar erklären und der Relativistik auch noch die Autorität Kants sichern möchten.   

 

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